Einsprüche: Wissenswertes zur Bindungswirkung 351 Abs. 1 AO


Kurzgutachten

I. Im vorliegenden Fall ist der Bescheid vom 15.01. noch nicht formell bestandskräftig geworden, als der erste Änderungsbescheid vom 28.01. bekannt gegeben wurde.

II. Wenn Änderungsbescheide mittels Einspruchs angegriffen werden, ist grds. die Bindungswirkung des § 351 Abs. 1 AO zu beachten. Die Regelung des § 351 Abs. 1 AO setzt voraus, dass der geänderte Steuerbescheid bereits unanfechtbar geworden war, d.h., dass er mit einem Rechtsbehelf nicht mehr angefochten werden konnte. Der Steuerbescheid ist unanfechtbar, wenn die Rechtsbehelfsfrist abgelaufen ist (§ 355 AO), auf den Rechtsbehelf verzichtet (§ 354 AO), der Rechtsbehelf zurückgenommen (§ 362 AO) oder über den Rechtsbehelf unanfechtbar entschieden worden ist (vgl. Seer in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 178. Lieferung, 11/2023, § 351 AO Rn. 10).

III. Wird dagegen - wie im vorliegenden Fall - ein Steuerbescheid geändert, bevor er unanfechtbar geworden ist, also noch während des Laufs der „ersten“ Rechtsbehelfsfrist, greift die Rechtsbehelfsbeschränkung des § 351 Abs. 1 AO nicht ein (vgl. BFH v. 10.7.1980 - IV R 11/78, BStBl. II 1981, 5; FG Sachs. v. 13.8.2009 - 4 K 2106/04, n.v.; FG München v. 16.4.2010 - 13 K 2939/08, EFG 2010, 1574 f. m. zust. Anm. Wüllenkemper; Bartone in Gosch, § 351 Rz. 8 f.; Tipke/Kruse, AO/FGO, 178. Lieferung, 11/2023, § 351 AO Rn. 11). Wird ein angefochtener Steuerbescheid während des Einspruchsverfahrens geändert, greift § 351 Abs. 1 AO ebenfalls nicht ein, d.h., § 351 Abs. 1 AO setzt der Änderung keine Grenzen. Ergehen zeitlich nacheinander mehrere Änderungen, ist für die Grenze der Anfechtbarkeit nach § 351 Abs. 1 AO der letzte der ergangenen unanfechtbaren Steuerbescheide maßgebend (vgl. Macher, StuW 1985, 33, 40; Seer in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 178. Lieferung, 11/2023, § 351 AO Rn. 11).

IV. Dies stellen auch die Regelungen in Tz. 1 zu § 351 AEAO klar: „1Wird ein Bescheid angegriffen, der einen unanfechtbaren Bescheid geändert hat, ist die Sache nach § 367 Abs. 2 Satz 1 AO in vollem Umfang erneut zu prüfen. 2Geändert werden kann aber aufgrund der Anfechtung der Änderungsbescheid nur in dem Umfang, in dem er vom ursprünglichen Bescheid abweicht; diese Beschränkung bezieht sich z.B. beim Steuerbescheid auf den festgesetzten Steuerbetrag. 3Einwendungen, die bereits gegen die ursprüngliche Steuerfestsetzung vorgebracht werden konnten, können auch gegen den Änderungsbescheid vorgetragen werden. 4Ist z.B. im Änderungsbescheid eine höhere Steuer festgesetzt worden, kann die ursprünglich festgesetzte Steuer nicht unterschritten werden; ist dagegen im Änderungsbescheid eine niedrigere Steuer festgesetzt worden, kann der Steuerpflichtige nicht eine weitere Herabsetzung erreichen.“

V. Die Gesamtüberprüfung eines Einspruchs gegen einen Änderungsbescheid, der innerhalb der „erstmaligen“ Rechtsbehelfsfrist ergangen ist, fällt also nicht in den Anwendungsbereich der Bindungswirkung nach § 351 Abs. 1 AO. Im vorliegenden Fall mit einem Erstbescheid vom 15.01. und einem Änderungsbescheid vom 28.01. ist die erstmalige reguläre Rechtsbehelfsfrist von einem Monat noch nicht abgelaufen. Die Anfechtung des Änderungsbescheids vom 28.01. mittels Einspruchs führt zur Gesamtüberprüfung (§ 367 Abs. 2 Satz 1 AO), ohne dass die Bindungswirkung nach § 351 Abs. 1 AO zu berücksichtigen ist.

VI. Dies wäre anders zu beurteilen in der Konstellation, dass der Änderungsbescheid nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist des Ursprungsbescheids ergeht. Dann würde die Bindungswirkung des § 351 Abs. 1 AO zum Tragen kommen, weil - in dieser Konstellation - durch den Änderungsbescheid ein bereits unanfechtbar gewordener Bescheid geändert würde.

 

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