Welcher Umsatz ist im Gründungsjahr für die Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten („Ist-Besteuerung“) maßgeblich? Wann ist eine Rücknahme möglich? Nach dem BFH gilt: Der maßgebende Gesamtumsatz ist nach den voraussichtlichen Verhältnissen des Gründungsjahres zu bestimmen, wenn die unternehmerische Tätigkeit erst im laufenden Jahr begann. Diese Prognose orientiert sich an der Soll-Besteuerung.
Der Bundesfinanzhof (BFH) hat in zwei aktuellen Entscheidungen vom 11.11.2020 (XI R 40/18 und XI R 41/18) seine Grundsätze weiter konkretisiert, unter welchen Voraussetzungen die Gestattung der Ist-Besteuerung im Gründungsjahr möglich ist bzw. wieder rückgängig gemacht werden kann.
Sachverhalt im Besprechungsfall
Die K-GbR gab dem Finanzamt (FA) Umsätze für das Jahr der Betriebseröffnung und für das Folgejahr in geschätzter Höhe von 30.000 € bzw. 100.000 € an. Das FA gestattete daraufhin die Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten (sog. Ist-Besteuerung).
Im Gründungsjahr verpflichtete sich die GbR, als Generalunternehmerin eine Photovoltaikanlage zu errichten, und vereinbarte eine Gesamtvergütung i.H.v. 1.258.000 € zzgl. Umsatzsteuer, welche in zwei Raten von je 450.000 € und einer Restrate von 358.000 € zu zahlen war.
Die GbR stellte im Gründungsjahr die erste Rate von 450.000 € zzgl. 85.500 € Umsatzsteuer in Rechnung. Am 21.12.2011 ging auf dem Konto der Klägerin eine Gutschrift i.H.v. 77.350 € ein. Die GbR reichte eine Umsatzsteuererklärung für das Gründungsjahr ein, gab Umsätze zu 19 % in Höhe des vereinnahmten Entgelts von (netto) 65.000 € an und ermittelte eine entsprechende Steuervergütung. Dieser Erklärung stimmte das FA nicht zu und nahm die Gestattung der Ist-Besteuerung rückwirkend zurück.
Es ermittelte die Umsatzsteuer nach vereinbarten Entgelten (sog. Soll-Besteuerung) und setzte die Umsatzsteuer entsprechend fest. Dabei ging es von Umsätzen zu 19 % mit einer Bemessungsgrundlage von 450.000 € aus. Einspruch und Klage blieben erfolglos, der BFH folgte dem.
Relevante Verhältnisse im Gründungsjahr
Das FA kann auf Antrag gestatten, dass der Unternehmer die Steuer nicht nach den vereinbarten Entgelten, sondern nach den vereinnahmten Entgelten berechnen darf (Ist-Besteuerung), wenn dessen Gesamtumsatz im vorangegangenen Kalenderjahr nicht mehr als 500.000 € (seit dem 01.01.2020: 600.000 €) betragen hat.
Gesamtumsatz ist die Summe der vom Unternehmer ausgeführten steuerbaren Umsätze abzgl. bestimmter steuerfreier Umsätze. Soweit der Unternehmer die Steuer nach vereinnahmten Entgelten berechnet, ist auch der Gesamtumsatz nach diesen Entgelten zu berechnen. Dabei kommt es nicht auf die Verhältnisse des vorangegangenen, sondern auf die voraussichtlichen Verhältnisse des laufenden Kalenderjahres an, wenn der Unternehmer seine unternehmerische Tätigkeit erst in diesem Jahr aufgenommen hat.
§ 20 Satz 1 Nr. 1 UStG stellt im Hinblick auf die Gestattung der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten auf den Gesamtumsatz im vorangegangenen Kalenderjahr ab. Der Fall, dass die unternehmerische Tätigkeit erstmals im Laufe eines Jahres aufgenommen wird, ist gesetzlich nicht geregelt.
Im Jahr der erstmaligen Aufnahme der gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit liegt kein Vorjahresumsatz vor, so dass für die Umsatzgrenze auf den voraussichtlichen Gesamtumsatz des laufenden Jahres abzustellen ist. Für das Jahr der Neugründung kommt es mithin darauf an, welche Umsätze der Unternehmer voraussichtlich erzielen wird.
Dies leitet der BFH daraus ab, dass für die Besteuerung von Kleinunternehmern im Hinblick auf den gleichfalls gesetzlich nicht geregelten Fall, dass der Unternehmer seine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit im Laufe eines Kalenderjahres neu aufnimmt, nichts anderes gilt. S
Schätzung des Gesamtumsatzes
Bei dieser Untersuchung sind die Umsätze des Erstjahres nach den Grundsätzen der Soll-Besteuerung zu schätzen. Denn gem. § 19 Abs. 3 Satz 2 UStG, der von § 20 Satz 1 Nr. 1 UStG in Bezug genommen wird, ist der maßgebliche Gesamtumsatz nach vereinnahmten Entgelten zu berechnen, soweit der Unternehmer die Steuer nach vereinnahmten Entgelten berechnet.
Die Grundsätze der Ist-Besteuerung finden bei der Ermittlung des maßgeblichen Gesamtumsatzes nur in den Fällen der Anzahlung und bei bereits erteilter Gestattung Anwendung. Letztere liegt aber bei einem Antrag auf Ist-Besteuerung gerade noch nicht vor.
Die Bedeutung gem. § 19 Abs. 3 Satz 2 UStG für einen regelbesteuerten Unternehmer erschöpft sich darin, ob er die ihm bisher genehmigte Besteuerungsart der Ist-Besteuerung weiterführen darf. Für eine Neugründung ist diese Vorschrift dagegen bedeutungslos – die Ist-Besteuerung findet erst dann Anwendung, wenn sie das FA durch die ihm obliegende Ermessensentscheidung genehmigt hat.
Anderenfalls hätte es der Steuerpflichtige selbst in der Hand, die für ihn im Einzelfall günstigere Form der Ist-Besteuerung durch faktische Ausübung herbeizuführen und damit die Genehmigungspflicht gem. § 20 UStG zu unterlaufen.
Eine (nicht gewollte) Benachteiligung von Unternehmern bei Unternehmensneugründungen gegenüber solchen Unternehmern, die ihr Unternehmen bereits im Vorjahr betrieben haben, liegt für den BFH darin nicht. Denn auch bei Letzteren ist bei einem Antrag auf Ist-Besteuerung der Gesamtumsatz grundsätzlich nach der Soll-Besteuerung zu berechnen.
Beide Fälle unterscheiden sich nur dadurch, dass es bei dem Neugründer – da es ein „Vorjahr“ seiner unternehmerischen Tätigkeit nicht gibt – auf die Verhältnisse des laufenden Jahres ankommt. Anderenfalls würde die mögliche Rechtsfolge der Ist-Besteuerung bereits bei der Prüfung ihrer Voraussetzungen berücksichtigt, was systematisch jedoch unzutreffend ist.
Möglichkeit der Rücknahme der Gestattung
Demnach war für das Streitjahr ein höherer Gesamtumsatz als 500.000 € zu erwarten. Bereits für die erste Teilleistung war ein Entgelt i.H.v. (netto) 450.000 € vereinbart, welches im Streitjahr zzgl. 85.500 € Umsatzsteuer in Rechnung gestellt wurde.
Für die anzustellende Prognose ist allein die konkrete unternehmerische Planung hinsichtlich des laufenden Erstjahres entscheidend. Es ist jedenfalls von einem voraussichtlichen Umsatz mit einer Bemessungsgrundlage i.H.v. (netto) 450.000 € auszugehen, so dass der auf das Gesamtjahr hochgerechnete maßgebliche Gesamtumsatz 1.350.000 € beträgt.
Die den Grundsätzen der Soll-Besteuerung folgende Schätzung der Summe der vom Unternehmer ausgeführten steuerbaren Umsätze, die er im Jahr der Neugründung voraussichtlich erzielt hätte, wenn die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit nicht nur in einem Teil dieses Jahres ausgeübt worden wäre, beinhaltet jedenfalls keine vorweggenommene inzidente Prüfung der Steuerfestsetzung des Erstjahres; die für dieses Jahr voraussichtlich festzusetzende Steuer ist für die Gestattung, ob der Unternehmer die Steuer nach den vereinnahmten Entgelten berechnen darf, nicht vorgreiflich.
Entscheidung im Besprechungsfall
Im Besprechungsfall hatte das FA im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung über die rückwirkende Rücknahme der Gestattung der Ist-Besteuerung nicht davon ausgehen müssen, dass im Fall der Vergütung der Leistung in Raten die Entgeltansprüche unmittelbar nach Leistungserbringung uneinbringlich geworden sein könnten.
Das FA hatte bei der Entscheidung über die rückwirkende Rücknahme der Gestattung der Ist-Besteuerung ferner ebenso wenig zu berücksichtigen, dass die Steuer bei der Berechnung nach vereinbarten Entgelten bei ratenweiser Vergütung nicht mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistungen oder Teilleistungen ausgeführt worden sind, entstanden sein könnte, sondern erst mit Ablauf des Zeitraums, auf den sich die geleisteten Zahlungen beziehen.
Insbesondere hat die GbR mit Blick auf § 20 Satz 1 Nr. 2 UStG keine Befreiung gem. § 148 AO erhalten. Ein Verwaltungsakt, der – wie die Gestattung der Ist-Besteuerung – ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), darf u.a. nur dann zurückgenommen werden, wenn ihn der Begünstigte durch Angaben erwirkt hat, welche in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren (gem. § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO).
Dabei müssen die Angaben des Begünstigten objektiv unrichtig oder unvollständig sein; auf ein vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln kommt es nicht an. Allerdings muss anzunehmen sein, dass das FA bei vollständiger Kenntnis des Sachverhalts den begünstigenden Verwaltungsakt nicht bzw. so nicht erlassen hätte.
Deshalb müssen die unrichtigen oder unvollständigen Angaben für den Erlass des begünstigenden Verwaltungsakts von entscheidungserheblicher Bedeutung sein. Im Besprechungsfall war die Angabe, dass die geschätzte Summe der Umsätze für das Jahr der Betriebseröffnung 30.000 € betrage, unzutreffend. Hierfür gab es keine Grundlage.
Diese Angabe war für die Gestattung ursächlich, weil das FA die Gestattung bei vollständiger Kenntnis des Sachverhalts nicht erteilt hätte. Die Entscheidung über die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts ist nach dem Wortlaut des § 130 Abs. 1 AO („kann“) eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde.
Die Vorschrift enthält jedoch ermessenslenkende Vorgaben (sog. intendiertes Ermessen). Sie „intendiert“ die Rücknahme des durch falsche Angaben erwirkten rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts dann, wenn der Begünstigte von der Unrichtigkeit seiner Angaben wusste oder zumindest hätte wissen können und müssen. In diesem Fall ist die Rücknahme die nicht begründungsbedürftige Rechtsfolge gem. § 130 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 3 AO; eine abwägende Stellungnahme des FA zur Rücknahme des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts ist insoweit nicht erforderlich.
Daher wies der BFH die Revision zurück. Praxishinweis Der BFH hat mit diesen Entscheidungen die Grundsätze für die Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten konkretisiert und für weitere Klarheit gesorgt: Der für die Gestattung der sog. Ist-Besteuerung maßgebende Gesamtumsatz (gem. § 20 Satz 1 Nr. 1 UStG) ist nach den voraussichtlichen Verhältnissen des Gründungsjahres zu bestimmen, wenn der Unternehmer seine unternehmerische Tätigkeit erst im laufenden Jahr begonnen hat.
Für diese Prognose ist ein Gesamtumsatz nach den Grundsätzen der sog. Soll-Besteuerung zu schätzen. § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO enthält ermessenslenkende Vorgaben; eine abwägende Stellungnahme des FA zur Rücknahme des durch falsche Angaben erwirkten rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts ist nicht erforderlich, wenn der Begünstigte von der Unrichtigkeit seiner Angaben wusste oder zumindest hätte wissen können und müssen.
BFH, Urt. v. 11.11.2020 - XI R 40/18 BFH, Urt. v. 11.11.2020 - XI R 41/18
RA und StB Axel Scholz, FA für Steuerrecht und FA für Handels- und Gesellschaftsrecht