Wegzugsbesteuerung: Stundung und Steuerfestsetzung

Wann greift die Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG? Der BFH hat das für einen Wegzug in die Schweiz vor dem Hintergrund von EU-Vorgaben und dem Freizügigkeitsabkommen der EU und der Schweiz geklärt. Demnach gilt: Auch wenn die zum Wegzugszeitpunkt entstehende nationale Steuer auf den Vermögenszuwachs nach diesen Regelungen dauerhaft und zinslos zu stunden ist, kann die Steuer festgesetzt werden.

Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Urteil vom 06.09.2023 (I R 35/20) entschieden, dass die nach § 6 AStG für einen Wegzug im Jahr 2011 in die Schweiz entstehende Wegzugsteuer festzusetzen ist, auch wenn sie nach unionsrechtlichen Vorgaben i.V.m. dem Freizügigkeitsabkommen der Europäischen Union und der Schweiz bei einem Wegzug dauerhaft und zinslos zu stunden ist.

Sachlage im Streitfall

Der Kläger hat im Jahr 2011 seinen Wohnsitz in Deutschland aufgegeben und ist in die Schweiz verzogen. Er hält Anteile an einer GmbH, an der er seit der Gründung im Juli 2007 zu 50 % beteiligt ist. 

Das Finanzamt (FA) setzte daraufhin einen steuerpflichtigen fiktiven Gewinn gem. § 6 Abs. 1 AStG fest. Der Kläger wandte sich gegen diese Festsetzung mit dem Hinweis, dass eine Besteuerung nicht mit dem Freizügigkeitsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Schweiz vereinbar sei. 

Die Besteuerung nicht realisierter stiller Reserven sei geeignet, eine Person vom Wegzug in die Schweiz abzuhalten. Die Wegzugsbesteuerung sei daher nicht anzuwenden. 

Das Finanzgericht (FG) richtete zunächst ein Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) und gab der Klage anschließend statt. Die Revision des FA sah der BFH jedoch als begründet an und hob das Urteil des FG auf.

Rechtmäßigkeit der Wegzugsbesteuerung

Gibt ein Steuerpflichtiger, der Anteile an einer Kapitalgesellschaft i.S.d. § 17 EStG hält, seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland auf und war er zuvor für mindestens zehn Jahre unbeschränkt steuerpflichtig, so ist ein fiktiver Veräußerungsgewinn für die von ihm gehaltenen Anteile festzusetzen. 

Die auf den fiktiven Veräußerungsgewinn entstandene Wegzugsteuer kann gem. § 6 Abs. 4 AStG zeitlich befristet und teilweise gestundet werden. Eine dauerhafte Stundung der Wegzugsteuer sah die bis zum 01.01.2022 gültige Fassung des § 6 AStG nur bei einem Wegzug in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union vor.

Anwendung der Grundsätze auf den Streitfall

Nach Auffassung des BFH hat das FG in der Vorinstanz unzutreffende Schlüsse aus der Entscheidung des EuGH gezogen. Die Unionsrechtswidrigkeit führt danach gerade nicht zu einer vollständigen Unanwendbarkeit oder Nichtigkeit der nationalen Vorschrift. 

Die nationale Vorschrift muss vielmehr um die nach der Entscheidung des EuGH erforderlichen Voraussetzungen ergänzt werden. Demnach sind nur die europarechtswidrigen Tatbestandsmerkmale nicht zu beachten. 

Der Steuerfestsetzung insgesamt steht die Entscheidung des EuGH jedoch nicht entgegen. Somit ist die bisher nach § 6 AStG nicht vorgesehene zinslose und bis zur Anteilsveräußerung andauernde Stundung von Amts wegen zu gewähren. Dadurch wird es dem Steuerpflichtigen ermöglicht, ebenfalls ohne die Zahlung der Wegzugsteuer in die Schweiz zu verziehen.

Praxishinweis: Das Urteil des BFH ist nicht nur für den Wegzug in die Schweiz von maßgeblicher Bedeutung. Der BFH formuliert eindeutig, dass sowohl für den Wegzug in die Schweiz als auch für den Wegzug in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union die Wegzugsteuer dauerhaft und zinslos zu stunden ist. 

Dies dürfte nicht nur für noch anhängige Streitfälle betreffend die bis zum Jahr 2021 gültige Fassung des § 6 AStG von Bedeutung sein, sondern auch erhebliche Zweifel an der Unionsrechtmäßigkeit der aktuellen Fassung des § 6 AStG hervorrufen. 

Dieser sieht auch bei einem Wegzug in einen Staat der Europäischen Union keine Stundung, sondern lediglich noch eine Ratenzahlung vor. Bei dem Wegzug in einen Staat der Europäischen Union sollten sich somit Steuerpflichtige gegen eine Zahlungsaufforderung mit Verweis auf die Unionsrechtswidrigkeit der Vorschrift wenden.

BFH, Urt. v. 06.09.2023 - I R 35/20

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