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Wann besteht Anspruch auf Kindergeld, wenn ein Elternteil im Ausland lebt? Gibt es einen Anspruch auf einen Differenzbetrag?
Nach dem BFH gilt: Leistungsansprüche sind nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil der im Inland lebende Elternteil dem deutschen Recht unterliegt, während der andere Elternteil im Ausland keinen Familienleistungsanspruch hat.
Auch eine Anspruchskonkurrenz ist möglich. Der Bundesfinanzhof (BFH) hat in seiner aktuellen Entscheidung vom 18.02.2021 (III R 71/18) dazu Stellung genommen, ob in Deutschland ein Kindergeldanspruch besteht, wenn ein Elternteil im Inland und der andere Elternteil im EU-Ausland lebt, welcher dort aber keinen Kindergeldanspruch besitzt.
Die Klägerin A ist eine in Deutschland lebende polnische Staatsangehörige und hat eine Tochter J. Vom Vater, der ebenfalls die polnische Staatsangehörigkeit besitzt und in Polen wohnt, ist A geschieden. J besuchte in Polen eine allgemeinbildende Schule, an der sie später die Abiturprüfung ablegte.
Die zuständige Familienkasse gewährte A bis zum Beginn von Js Schulbesuch in Polen Kindergeld. Im Anschluss daran und nach Klärung der Zuständigkeit mit den polnischen Behörden bewilligte die Familienkasse jedoch teilweise kein Kindergeld mehr.
Der Einspruch der A gegen diese Entscheidung blieb erfolglos, während ihre Klage vor dem Finanzgericht (FG) Erfolg hatte. Der BFH folgte dem FG teilweise.
Anwendbares Recht: ausschließlich deutsches oder europäisches? A hatte einen Wohnsitz im Inland und unterlag dem Anwendungsbereich des Kindergeldes. J ist als leibliches Kind berücksichtigungsfähig und hatte zunächst einen Wohnsitz im Inland und anschließend in einem Mitgliedstaat der EU (Polen).
Ferner konnte für J, da sie noch in der Ausbildung war, auch als Volljährige noch Kindergeld gezahlt werden. Zudem sind bei der Anwendung der Regelungen über das deutsche Kindergeld die Regeln des europäischen Sozialrechts zu beachten, weil der Geltungsbereich der einschlägigen Verordnung (VO) zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – VO (EG) 883/2004 – eröffnet ist.
Im Besprechungsfall ist der persönliche Geltungsbereich der VO eröffnet, da A und der Vater als polnische Staatsangehörige von diesem erfasst werden. Zudem fällt das deutsche Kindergeld unter den sachlichen Geltungsbereich der VO.
Die VO bestimmt als Grundsatz, dass Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen. A unterliegt demnach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats Deutschland, da sie im Streitzeitraum weder eine Erwerbstätigkeit ausgeübt noch Leistungen wegen Arbeitslosigkeit erhalten hat.
Der Vater unterlag aufgrund seines Wohnsitzes den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats Polen, da er im Streitzeitraum ebenfalls keiner Erwerbstätigkeit nachging. Allerdings gilt für den Bereich der Familienleistungen eine Sonderregelung.
Danach hat eine Person auch für Familienangehörige, welche in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats –als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden.
Nach der einschlägigen Durchführungsverordnung ist zudem eine Familienbetrachtung vorzunehmen. Demnach ist insbesondere bezüglich des Rechts einer Person auf einen Leistungsanspruch die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen.
Diese Bestimmung ist dahingehend auszulegen, dass sie sowohl in dem Fall Anwendung findet, dass die Leistung gemäß den als vorrangig bestimmten Rechtsvorschriften gewährt wird, als auch in dem Fall, dass sie nach den Rechtsvorschriften eines nachrangig zuständigen Mitgliedstaats in Form eines Unterschiedsbetrags ausbezahlt wird.
Es ist daher nicht nur zu fingieren, dass A in Polen wohnt, sondern auch dass sie ebenso wie der Vater den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats Polen unterliegt.
Nach der VO ist die Anwendung des deutschen Kindergeldanspruchs oder der ausländischen Familienleistung aufzulösen, wenn deren persönlicher und sachlicher Geltungsbereich eröffnet ist. Diese Prioritätsregelung ist gegenüber dem EStG grundsätzlich vorrangig.
Was den Familienleistungsanspruch des Vaters in Polen anbelangt, ist es grundsätzlich nicht Aufgabe des deutschen Gerichts, das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen nach ausländischem Recht zu beurteilen, wenn hierüber bereits eine Bescheinigung einer Behörde im EU-Ausland vorliegt, der nach dem Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit Bindungswirkung für die nationalen Behörden und Gerichte zukommt.
Eine solche Bescheinigung fehlt bisher.
Was einen Familienleistungsanspruch der A in Polen anbelangt, hat das FG bislang nicht festgestellt, ob ein solcher besteht. Es wäre daher zunächst zu klären, ob und in welchem Umfang – bei fiktiver Annahme der Anwendbarkeit polnischen Rechts – dort ein Anspruch der A auf Familienleistungen für J bestand.
Insofern wäre auch zu berücksichtigen, dass die von der A in Deutschland gestellten Kindergeldanträge von den polnischen Behörden so zu behandeln wären, als ob sie direkt bei ihnen gestellt worden wären.
Sollten diese im zweiten Rechtsgang nachzuholenden Ermittlungen ergeben, dass ein Anspruch des Vaters oder der Klägerin in Polen bestand, wäre im Hinblick auf die Anwendung der Prioritätsregel der VO noch genauer festzustellen, woraus sich die Zuständigkeit Polens für den Vater und daraus abgeleitet die Zuständigkeit Polens für die Mutter ergibt.
Denn für den Fall, dass der Vater nach Beendigung seiner Erwerbstätigkeit z.B. Kranken- oder Arbeitslosengeld bezogen hätte, wäre die Zuständigkeit Polens durch eine Beschäftigung begründet.
Dies hätte zur Folge, dass auch der Anspruch in Polen als durch die Beschäftigung ausgelöst anzusehen wäre. In diesem Fall wäre der Anspruch in Polen gegenüber dem nur durch den Wohnort ausgelösten Anspruch in Deutschland nach der VO vorrangig und ein Differenzkindergeldanspruch in Deutschland ausgeschlossen.
Wäre der Anspruch in Polen dagegen nur durch den Wohnort des Vaters ausgelöst, wäre dieser teilweise nachrangig, da J ihren Wohnsitz in Deutschland hatte. Für die Monate, in denen J in Polen wohnte, wäre hingegen der Anspruch in Polen vorrangig.
Ein Differenzkindergeldanspruch in Deutschland würde für diese Monate ausscheiden. Damit dies geklärt werden kann, hob der BFH die Entscheidung auf und verwies sie zurück ans FG.
Praxishinweis: Der BFH hat die Grundsätze für die Anwendung des einschlägigen Rechts bezüglich des Kindergeldes bei Elternteilen in unterschiedlichen EU-Mitgliedstaaten konkretisiert. Ein Zusammentreffen von Leistungsansprüchen i.S.d. Art. 68 der VO (EG) 883/2004 ist nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil der im Inland lebende Elternteil dem deutschen Recht unterliegt, wenn der andere Elternteil unter die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats fällt, dort aber selbst keinen Familienleistungsanspruch hat. Nach der anzuwendenden Familienbetrachtung ist nicht nur zu fingieren, dass der im Inland wohnende Elternteil auch im Wohnsitz-Mitgliedstaat des anderen Elternteils wohnt, sondern auch, dass er unter die Rechtsvorschriften des betreffenden anderen Mitgliedstaats fällt. Es ist daher auch zu prüfen, ob der im Inland lebende Elternteil die Anspruchsvoraussetzungen im anderen Mitgliedstaat erfüllt und deshalb eine Anspruchskonkurrenz besteht.
BFH, Urt. v. 18.02.2021 - III R 71/18
RA und StB Axel Scholz, FA für Steuerrecht und FA für Handels- und Gesellschaftsrecht
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