Erkennt das BVerfG in der Anwendung einer Steuernorm einen Verstoß gegen das Grundgesetz, kann es dem Gesetzgeber eine gewisse Übergangszeit einräumen, die beanstandete Vorschrift zu korrigieren. Damit bleibt die verfassungswidrige Norm zunächst einmal weiter anwendbar. Dies hat nach dem Beschluss des BFH zur Folge, dass trotz der festgestellten Verfassungswidrigkeit eine Bestrafung wegen Steuerhinterziehung innerhalb der Übergangsfrist möglich ist.
Das Dogma der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze gilt nämlich nicht uneingeschränkt und ausnahmslos. Das BVerfG kann in seine Ermessensentscheidung, in der es die Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes bestimmt, unter dem systematischen Gesichtspunkt der Einheit der Verfassung abwägungsfähige Rechtsgüter einbeziehen und hat einen Ermessensspielraum.
Steuerhinterzieher können also nicht darauf vertrauen, dass ihre Vergehen ohne Sanktionen bleiben, nur weil das BVerfG eine strittige Vorschrift in einem anhängigen Verfahren als verfassungswidrig einstuft. Sie können auch nach der Entscheidung noch belangt werden, wenn die Regelungen - wie etwa große Teile des Erbschaftsteuergesetzes in der Fassung bis Ende 2008 - über mehrere Monate oder gar Jahre in der Praxis Anwendung finden, weil die Reform ihre Zeit braucht. Das BVerfG hat zuletzt mehrfach längere Übergangsfristen eingeräumt: beispielsweise beim ehemaligen Erbschaftsteuerrecht oder dem verbesserten Abzug der Krankenkassenbeiträge für Privatversicherte.
Wird eine Norm allerdings für unvereinbar mit dem Grundgesetz gehalten und daher für nichtig erklärt, darf die Finanzverwaltung die beanstandete Regelung insoweit nicht mehr anwenden. Dazu bedarf es keiner neuen gesetzlichen Regelung, da die Entscheidung des BVerfG Gesetzescharakter hat und von der Verwaltung zu beachten ist. Eine festgestellte Nichtigkeit führt allerdings nicht dazu, dass auch bestandskräftige Steuerfestsetzungen noch korrigiert werden müssen. Lediglich die Vollstreckung offener Forderungen aus der Anwendung der nichtigen Norm ist dann unzulässig.
Der Grundsatz, dass Bestandskraft vor Anwendung einer BVerfG-Entscheidung geht, ergibt sich aus dem Grundgesetz, wonach alle Rechtsnormen bis zu ihrer Aufhebung oder einer gerichtlichen Entscheidung als gültig zu behandeln sind. Ein Steuergesetz verliert seine Bindungswirkung erst dann, wenn das BVerfG seine Nichtigkeit festgestellt hat.
Praxishinweis
Von einer für Steuerzahler günstigen Entscheidung des BVerfG lässt sich nur in offenen Fällen profitieren. Ein Steuerbescheid, der auf einer verfassungswidrigen Steuernorm beruht, kann nur noch dann aufgehoben oder geändert werden, wenn
- er nach § 164 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht und noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist,
- überhaupt noch keine Festsetzung hierzu ergangen ist,
- noch gar keine Erklärung eingereicht wurde - etwa bei der freiwilligen Antragsveranlagung von Arbeitnehmern oder bei begründeter Fristverlängerung -,
- die Finanzämter den Sachverhalt nach § 165 AO in Hinblick auf das beim BVerfG anhängige Verfahren insoweit vorläufig festgesetzt haben oder
- der Bescheid rechtzeitig mit Rechtsbehelf angefochten worden ist und das Einspruchsverfahren aufgrund der anhängigen Verfassungsbeschwerde geruht hat.
Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Steuernorm stellt auch keine neue Tatsache dar. Eine Änderung aufgrund eines rückwirkenden Ereignisses liegt ebenfalls nicht vor, weil die Entscheidung des BVerfG Gesetzeskraft hat. Dies hat auch die Verwaltung in einem Schreiben klargestellt.
BFH, Beschl. v. 12.05.2011 - II B 126/10
BFH, Beschl. v. 08.05.2003 - IV R 95/99, BFH/NV, 1054
BFH, Beschl. v. 23.02.2006 - III B 44/05, BFH/NV, 1297
BFH, Urt. v. 12.05.2009 - IX R 45/08, BStBl II, 891
BGH, Beschl. v. 07.11.2001 - 5 StR 395/01, BStBl II 2002, 259
Quelle: Dipl.-Finanzwirt Robert Kracht - vom 06.07.11