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Aktuelle Rechtsprechung zur Aussetzung der Vollziehung (AdV)

Bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Steuerbescheids, soll dessen Vollziehung im Regelfall ausgesetzt werden. Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen soll die Aussetzung der Vollziehung (kurz AdV) trotz Vorliegens solcher Zweifel abgelehnt werden. Ein solcher atypischer Fall kommt in Betracht, wenn die ernstlichen Zweifel auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer Gesetzesvorschrift beruhen. Die Gewährung einer AdV ist zwar nicht ausgeschlossen, setzt aber ein besonderes berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes voraus.

Bei der Prüfung, ob ein solches berechtigtes Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen besteht, ist dieses mit den gegen die Gewährung einer AdV sprechenden öffentlichen Belangen abzuwägen, so die langjährige Rechtsprechung des BFH. Dabei ist Folgendes zu beachten:

  • Einerseits kommt es auf die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids eintretenden Eingriffs beim Betroffenen an.
  • Andererseits sollen die Auswirkungen einer AdV hinsichtlich des Gesetzesvollzugs und des öffentlichen Interesses an einer geordneten Haushaltsführung in die Überlegungen einbezogen werden.
  • Nicht von ausschlaggebender Bedeutung ist hingegen ist die Schwere der ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der betroffenen Vorschrift.

Diese Abwägung gab es aktuell bei der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Zinsschranke. Dabei kam das FG Münster im zugrundeliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass sich kein gegenüber dem öffentlichen Interesse an dem Gesetzesvollzug überwiegendes besonderes Aussetzungsinteresse einer Firma feststellen ließ - insbesondere keine durch die Zinsschranke begründete Existenzgefährdung.

Diese einschränkende Auslegung, wonach ein Verwaltungsakt wegen ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Vorschrift nur nach Abwägung des individuellen Aussetzungsinteresses gegen das öffentliche Vollziehungsinteresse auszusetzen ist, folgt aus dem gültigen Grundsatz eines formell ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes, der nicht gegen den Anspruch auf einen umfassenden und effektiven Rechtsschutz verstößt.

Diese einschränkende Auslegung hat auch das BVerfG bestätigt: Die Ausgestaltung des Rechtsschutzes obliegt dem Gesetzgeber. Dieser muss lediglich im Rahmen seines Gestaltungsspielraums sicherstellen, dass nicht aufgrund einer zu engen Begrenzung der Rechtsschutzmöglichkeiten zum Nachteil des Bürgers irreparable Folgen entstehen können. Hiervon ausgehend steht es dem Gesetzgeber frei, eine AdV trotz bestehender Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids auszuschließen. Er ist nicht von Verfassungs wegen daran gehindert, dem Geltungsanspruch jedes formell verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzes Rechnung zu tragen.

Vorläufiger Rechtsschutz ist erforderlich, um einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden zu vermeiden. Ein reiner Geldschaden genügt hierbei grundsätzlich nicht. Im Konkreten muss ein - gegenüber den öffentlichen Interessen an dem Gesetzesvollzug - überwiegendes besonderes Aussetzungsinteresse des Antragstellers festgestellt werden. Dies kann etwa die Gefährdung seiner Existenz sein. Maßgebend sind die Auswirkungen, die sich absehbar für den jeweiligen Antragsteller aus der Anwendung der verfassungsrechtlich zweifelhaften Norm ergeben. Selbst wenn die Steuerforderungen eine erhebliche finanzielle Belastung darstellten, genügt dies nicht, um dem Aussetzungsinteresse Vorrang vor den öffentlichen Interessen am sofortigen Gesetzesvollzug einzuräumen.

Es geht um Geldleistungen, die nicht von vornherein einen Zustand irreparabel verändern. Vielmehr können Steuern nach Abschluss der gerichtlichen Verfahren entweder erstmals gezahlt oder zurückgezahlt werden. Zwar wäre es nicht gerechtfertigt, einen vorläufigen Rechtsschutz von vornherein auszuschließen, andererseits muss das öffentliche Interesse an der sofortigen Steuererhebung nicht allein deshalb zurücktreten, weil nur um Geldleistungen gestritten wird. Darüber hinaus ist das öffentliche Interesse nicht auf eine geordnete Haushaltsführung zu reduzieren, sondern es bezieht sich auch auf den Vollzug eines formell ordnungsgemäß beschlossenen Gesetzes, das nicht nur der Einnahmeerzielung dient, sondern daneben Lenkungszwecke verfolgt, etwa wie es einer gleichmäßigen Lastenverteilung dienen soll.

Faustregel: Dem Gesetzesvollzug ist ein höheres Gewicht beizumessen, wenn gegen die gesamte Konzeption der gesetzlichen Neuregelung eines Sachbereichs gewichtige verfassungsrechtliche Einwendungen erhoben werden. In derartigen Fällen ist von einem vorrangigen Aussetzungsinteresse nur dann auszugehen, wenn dem Antragsteller andernfalls wesentliche Nachteile drohen. Derartige wesentliche Nachteile sind nicht nur bei einer Existenzgefährdung anzunehmen, sondern auch dann, wenn die Verfassungswidrigkeit einer Norm klar und eindeutig erscheint und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einer dementsprechenden Entscheidung des BVerfG auszugehen ist. Würde man es auch ansonsten als ausreichend ansehen, eine AdV zu rechtfertigen, würde faktisch der Vollzug insgesamt ausgesetzt. In einem derartigen Fall ist jedoch das öffentliche Interesse vorrangig, sofern durch den Sofortvollzug keine wesentlichen Nachteile drohen.

Praxishinweis

Die vorgenannte einschränkende Auslegung ist allerdings nicht nur im Schrifttum auf Kritik gestoßen. Während einige BFH-Senate auch in ihren jüngeren Entscheidungen die vorgenannte Interessenabwägung als erforderlich ansehen, haben verschiedene andere Senate des BFH zwischenzeitlich teilweise offengelassen, ob an der bisherigen BFH-Rechtsprechung uneingeschränkt festzuhalten ist, und teilweise ausdrücklich den öffentlichen Haushaltsinteressen deutlich weniger Gewicht beigemessen als zuvor.

Die Frage, nach welchen Maßstäben die Entscheidung über einen Antrag auf AdV zu treffen ist, wenn die Verfassungswidrigkeit der dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrundeliegenden Rechtsnorm gerügt wird, wird also vom BFH unterschiedlich beurteilt. Außerdem hat das FG Berlin-Brandenburg jüngst in seinem Beschluss eine AdV wegen ernstlicher Zweifel an der Zinsschrankenregelung gewährt.

FG Münster, Beschl. v. 29.04.2013 - 9 V 2400/12 K
BFH, Beschl. v. 01.04.2010 - II B 168/09, BStBl 2010 II 558
BFH, Beschl. v. 11.12.2012 - III B 89/12
BFH, Beschl. v. 21.12.2012 - III B 41/12
BFH, Beschl. v. 09.03.2012 - VII B 171/11
BFH, Beschl. v. 13.03.2012 - I B 111/11, BStBl 2012 II 611
BFH, Beschl. v. 25.08.2009 - VI B 69/09, BStBl 2009 II 826
BFH, Beschl. v. 22.12.2003 - IX B 177/02, BStBl 2004 II 367
BFH, Beschl. v. 16.10.2012 - I B 125/12
BFH, Beschl. v. 16.10.2012 - I B 128/12, BStBl 2013 II 30
FG Köln, Beschl. v. 04.07.2012 - 13 V 1408/12
FG Köln, Beschl. v. 04.07.2012 - 13 V 1292/12
FG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 13.10.2011 - 12 V 12089/11
BVerfG, Beschl. v. 03.04.1992 - 2 BvR 283/92
BVerfG, Beschl. v. 24.10.2011 - 1 BvR 1848/11, 1 BvR 2162/11

Quelle: Dipl.-Finanzwirt Robert Kracht - vom 28.05.13