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Ist die Sanierungsklausel verfassungs- oder europarechtswidrig?

Die im Zuge der Unternehmensteuerreform 2008 eingeführte Verrechnungsbeschränkung, wonach ein Gesellschafterwechsel bei einer Kapitalgesellschaft dazu führt, dass Verluste ganz oder anteilig verlorengehen, ist aktuell in den Fokus gerückt:

  • Das FG Münster äußert im Beschluss vom 01.08.2011 - 9 V 357/11 K, G erhebliche Zweifel, ob die Sanierungsklausel tatsächlich, wie von der EU-Kommission festgestellt, als unzulässige Beihilfe anzusehen ist. Daher wurde die Vollziehung von Steuerbescheiden ausgesetzt, soweit Verluste nicht mehr berücksichtigt werden. Es bezieht sich dabei insbesondere auf ein Urteil des FG Hamburg.
  • Dieses hält nämlich mit Beschluss vom 04.04.2011 - 2 K 33/10 die 2008 neu eingeführte Verlustverrechnungsbeschränkung für eine verfassungsrechtlich bedenkliche Steuerrechtsänderung und hat dem BVerfG die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob die Übertragung von mehr als 25 % des gezeichneten Kapitals innerhalb von fünf Jahren nicht zu einem schädlichen Beteiligungserwerb führt, weil die Regelung wegen Verstoßes gegen das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit verfassungswidrig sei, da sie Kapitalgesellschaften, bei denen ein Gesellschafterwechsel stattgefunden hatte, in unzulässiger Weise benachteiligt. Das Verfahren ist beim BVerfG unter dem Az. 2 BvL 6/11 anhängig.
  • Nach einem Urteil des FG Münster vom 30.11.2010 - 9 K 1842/10 K (Rev. BFH: I R 14/11) gilt die Beschränkung des Verlustabzugs entgegen der Verwaltungsauffassung zumindest nicht für den Abzug eines im laufenden Jahr entstandenen Gewinns, der bis zum Zeitpunkt des schädlichen Beteiligungserwerbs aufgelaufen war.
  • Demgegenüber entschied das Sächsische FG mit Urteil vom 16.03.2011 - 2 K 1869/10 (Rev. BFH: I R 31/11), dass das Verrechnungsverbot im Falle eines schädlichen Erwerbs von mehr als 50 % der Anteile im Hinblick auf den weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und dessen Befugnis zur Typisierung keinen verfassungsrechtlichen Zweifeln begegnet.
  • Die übergangslose Entwertung von Verlustvorträgen durch eine gesetzliche Neufassung nebst der dazugehörenden Anwendungsregelung berücksichtigt laut BFH das Vertrauen der Steuerpflichtigen in die bisherige Rechtslage nicht angemessen.

Beim Vorlagebeschluss zum BVerfG nach Karlsruhe geht es um die umstrittene Vorschrift, die für Anteilsübertragungen nach dem 31.12.2007 einem partiellen bzw. vollständigen Wegfall von Verlustvorträgen und laufenden Verlusten im Veranlagungszeitraum bis zur schädlichen Anteilsübertragung vorsieht, wenn innerhalb von fünf Jahren ein schädlicher Beteiligungserwerb von mittel- oder unmittelbar mehr als 25 % der Anteile (gezeichnetes Kapital, Mitgliedschafts-, Beteiligungs- oder Stimmrechte) erfolgt. Dann sind die bis dahin nicht ausgeglichenen oder abgezogenen negativen Einkünfte nicht mehr abziehbar.

Dabei ist zwischen zwei Fällen zu unterscheiden:

  1. Übertragung von 25,01 % bis zu 50 % der Anteile: Der bis zu diesem Zeitpunkt entstandene Verlustabzug und ein im laufenden Wirtschaftsjahr bis zur Übertragung anfallender Verlust gehen entsprechend der auf einen Erwerber übertragenen Anteilsquote steuerlich verloren. Wird innerhalb des Fünfjahreszeitraums die Schwelle von 50 % überschritten, entfällt der Verlustvortrag insgesamt.
  2. Übertragung von mehr als 50 % der Anteile: Der bis zu diesem Zeitpunkt entstandene Verlustabzug und ein im laufenden Wirtschaftsjahr bis zur Übertragung anfallender Verlust fallen in voller Höhe weg, und die GmbH kann überhaupt keinen Verlustabzug mehr geltend machen.

Praxishinweis

Kapitalgesellschaften - in der Praxis vor allem GmbHs - und ihre Beteiligten sollten den strittigen Sachverhalt mit Verweis auf eine mögliche Verfassungswidrigkeit über ein Einspruchsverfahren in Hinsicht auf Körperschaftsteuerbescheide insoweit kraft Gesetzes ruhenlassen und sich damit die Möglichkeit offenhalten, von einer positiven Entscheidung des BVerfG zu profitieren und derzeit verlorengegangene Verlustvorträge trotz eines Gesellschafterwechsels doch noch mit Gewinnen anderer Wirtschaftsjahre verrechnen zu können.

Ein Rechtsbehelf ist anzuraten. Zwar darf eine Regelung insoweit nicht mehr von der Finanzverwaltung angewendet werden, wenn das BVerfG eine Norm für nichtig erklärt. Dies führt aber nicht dazu, dass auch bestandskräftige Steuerfestsetzungen noch korrigiert werden müssen.

Hinweis: Die Rechtsfolgen gelten entsprechend für gewerbesteuerliche Fehlbeträge der Körperschaft sowie einer nachgeordneten Mitunternehmerschaft. Daher sind auch Gewerbesteuermessbescheide offenzuhalten.

Die Finanzverwaltung lässt die Einsprüche so lange unbearbeitet, bis das BVerfG eine Entscheidung getroffen hat, soweit ein Fall eines schädlichen Anteilserwerbs von bis zu 50 % innerhalb von fünf Jahren vorliegt. Aussetzung der Vollziehung wird aber nicht gewährt.

In Fällen der Übertragung von mehr als 50 % der Anteile wird das Einspruchsverfahren unter Hinweis auf die Entscheidung des Sächsischen FG fortgeführt und ebenfalls keine AdV gewährt.

Die Verlustabzugsregel wurde durch das Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung über eine Sanierungsklausel entschärft, so dass der Untergang von Verlustvorträgen bei einem Besitzerwechsel auf sanierungswillige Investoren ausgeschlossen ist. Nach einer Entscheidung der EU-Kommission darf die Sanierungsklausel aber nicht mehr angewendet werden. Die Bundesregierung hat gegen den Beschluss der EU-Kommission eine Nichtigkeitsklage vor dem Gericht der Europäischen Union erhoben. Sollte es der Klage stattgeben, wäre der Kommissionsbeschluss rückwirkend nichtig und die Sanierungsklausel könnte für die Veranlagungszeiträume 2008 bis 2010 wieder Anwendung finden.

FG Münster, Beschl. v. 01.08.2011 - 9 V 357/11 K, G
FG Hamburg, Beschl. v. 04.04.2011 - 2 K 33/10 (Verfassungsbeschwerde BVerfG: 2 BvL 6/11)
FG Münster, Urt. v. 30.11.2010 - 9 K 1842/10 K (Rev. BFH: I R 14/11)
FG Sachsen, Urt. v. 16.03.2011 - 2 K 1869/10 (Rev. BFH: I R 31/11)
BFH, Urt. v. 14.03.2011 - I R 95/04
OFD Magdeburg, Vfg. v. 05.07.2011 - S-2745 a - 4 - St 216
BMF-Schreiben v. 04.07.2008 - IV C 7 - S-2745-a/08/10001, BStBl 2008 I 736 (koordinierter Ländererlass)
BMF-Schreiben v. 30.04.2010 - IV C 2 - S-2745-a/08/10005 :002, BStBl 2010 I 488
EU-Kommission, Pressemitteilung v. 24.02.2010 - IP/10/180
EU-Kommission, Pressemitteilung v. 26.01.2011 - IP/11/65

Quelle: Dipl.-Finanzwirt Robert Kracht - vom 07.09.11