Wann kann das Finanzamt einen Steuerbescheid nach einem Einspruch auch zum Nachteil des Steuerpflichtigen abändern? Nach einem BFH-Urteil ist eine Entscheidung im Einspruchsverfahren, die den Steuerpflichtigen schlechter stellt als zuvor (sog. Verböserung), unter Umständen auch dann möglich, wenn die Voraussetzungen der Korrekturvorschriften der §§ 130 f., 172 ff. AO nicht vorliegen.
Der BFH hat in einer aktuellen Entscheidung dazu Stellung genommen, ob während eines Rechtsbehelfsverfahrens ein gewährter Teilerlass wieder aufgehoben werden darf. Der BFH hatte dabei über folgenden Sachverhalt zu entscheiden:
Zwei Brüder betrieben gemeinsam Güterbeförderung in der Rechtsform einer OHG. In das Betriebsvermögen der Gesellschaft wurden hohe Beträge eingelegt, die das Finanzamt den Gesellschaftern jeweils hälftig zurechnete. Während einer Steuerfahndungsprüfung wurde angenommen, dass die ungeklärten Bareinlagen aus dem Einzelunternehmen des einen Bruders stammten. Aus diesem Grund änderte das beklagte Finanzamt die Einkommensteuerbescheide dieses Gesellschafters für den Prüfungszeitraum.
Der betroffene Bruder legte gegen diese Steuerbescheide zunächst Einspruch ein, begründete diesen aber erst ca. zwei Jahre später. Da Vollstreckungsrückstände eingetreten waren, führte das Finanzamt diverse Pfändungen durch. Eine Verwertung der gepfändeten Gegenstände unterblieb jedoch überwiegend. Wegen der Verhandlungen mit dem einen Bruder, die erst ernsthaft zeitgleich mit der inhaltlichen Begründung des Einspruchs begannen, gewährte das Finanzamt rückwirkend ab Antragstellung Aussetzung der Vollziehung im Rahmen der Änderungen. Zudem beantragte dieser Bruder einen Erlass der verwirkten Säumniszuschläge und angepassten Vorauszahlungsbeträge für den Prüfungszeitraum.
Das Finanzamt gewährte einen Teilerlass der Säumniszuschläge. Deswegen legte der betroffene Bruder Einspruch ein, um einen vollständigen Erlass zu erreichen. Stattdessen wies das Finanzamt auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung hin und lehnte anschließend jeglichen Erlass ab, hob also den zunächst gewährten Teilerlass ebenfalls auf. Das Finanzgericht hielt die Aufhebung des Teilerlasses für rechtswidrig, während der BFH die Klage abwies.
Möglichkeit der Verböserung im Einspruchsverfahren
Im Einspruchsverfahren ist der Verwaltungsakt „in vollem Umfang erneut zu prüfen“. Dabei kann die Finanzbehörde den Verwaltungsakt auch zum Nachteil des Steuerpflichtigen ändern, wenn die Behörde zuvor auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung hingewiesen hat, die Gründe für die Verböserung benennt und den Steuerpflichtigen entsprechend vor der Entscheidung anhört. Bei einer möglichen Änderung ist das Finanzamt nicht an die Voraussetzungen der Korrekturvorschriften der §§ 130 f., 172 ff. AO gebunden. Vielmehr kann die Finanzbehörde in diesem Fall im Einspruchsverfahren ebenso entscheiden, als ob sie die Sache erstmals in einem Verwaltungsakt regelt. Daher war nach Ansicht des BFH zu prüfen, ob ein Erlass zu gewähren wäre.
Voraussetzungen für einen Erlass
Säumniszuschläge fallen an, wenn Steuern nach Ablauf des Fälligkeitstags gezahlt werden. Dies gilt auch für den Fall, dass festgesetzte Steuern aufgehoben oder geändert werden. Ob die Steuerfestsetzungen rechtmäßig oder rechtswidrig waren, ist davon unabhängig, denn die Vollstreckbarkeit eines Steuerbescheids hängt nicht von seiner Bestandskraft ab. Jedoch fallen keine Säumniszuschläge an, soweit der Steuerbescheid von der Vollziehung ausgesetzt wird. Darüber hinaus können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis vollständig oder teilweise erlassen werden, falls deren Einziehung nach der Lage des Einzelfalls aus persönlichen oder sachlichen Gründen unbillig wäre.
Dies ist u.a. der Fall, wenn die Steuerfestsetzung später aufgehoben wird und der Steuerpflichtige alles getan hat, um die Aussetzung der Vollziehung des fraglichen Steuerbescheids zu erreichen, aber das Finanzamt die Aussetzung – „obwohl möglich und geboten“ – abgelehnt hat. Im Gegensatz dazu ist ein Erlass nicht möglich, falls der Steuerpflichtige sich nicht um die Aussetzung der Vollziehung bemüht hat oder wenn die Vollziehung nicht ausgesetzt worden ist, weil keine ernstlichen Zweifel bestanden und der Steuerbescheid erst aufgrund nachgereichter Steuererklärungen aufgehoben worden ist.
Berechtigung zur Änderung wegen des Verböserungshinweises
Da das Finanzamt zutreffend auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung unter Angabe von Gründen hingewiesen hat und für den Steuerpflichtigen Gelegenheit bestand, sich zu äußern, durfte auch zum Nachteil des Steuerpflichtigen geändert werden. Denn der Steuerpflichtige hatte im Entscheidungsfall nicht alles ihm Mögliche getan, um die Aussetzung der Vollziehung zu erreichen. Die Einsprüche gegen die Änderungsbescheide wurden zunächst nicht „ernsthaft“ begründet, ebenso nicht die Anträge auf Aussetzung der Vollziehung bzw. Stundung. Vor allem wurde nach der inhaltlichen Einspruchsbegründung kein erneuter Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt.
Ferner waren die Voraussetzungen für einen Erlass oder eine Stundung aus persönlichen Gründen, die einen Teilerlass der Säumniszuschläge gerechtfertigt hätten, für den BFH nicht gegeben. Denn der Steuerpflichtige im Entscheidungsfall verfügte während des Säumniszeitraums über ausreichende Mittel, um die fälligen Steuerforderungen zu begleichen.
Praxishinweis
Die Entscheidung des BFH setzt konsequent die Gesetzeslogik um: Die AO unterscheidet das förmliche Rechtsbehelfsverfahren und die übrigen Korrekturvorschriften. Beide Verfahren haben unterschiedliche Voraussetzungen. Im Einspruchsverfahren ist eine Verböserung möglich, in den übrigen Korrekturverfahren grundsätzlich nicht. Konsequenterweise müssen bei einer Verböserung im Einspruchsverfahren daher auch nicht die Voraussetzungen der Korrekturnormen vorliegen.
Vielmehr muss die Finanzbehörde überprüfen, ob die Voraussetzungen des Begehrens des Steuerpflichtigen wie im Ausgangsverfahren vorgelegen haben. Diese klare Trennung führt zu Rechtssicherheit. Umso wichtiger ist es, während der Einspruchsfrist auch darüber nachzudenken, dass alternative Änderungsvorschriften zum Einspruch einschlägig sein könnten (z.B. §§ 164, 172 AO), die eine Verböserung vermeiden. Möglicherweise wird auf diese Weise keine Aussetzung der Vollziehung erreicht, stattdessen aber ggf. eine Stundung.
BFH, Urt. v. 10.03.2016 - III R 2/15
Quelle: Rechtsanwalt und Steuerberater Axel Scholz