Wann können nach § 174 AO Steuerbescheide geändert werden? Der BFH hat klargestellt, dass eine irrige Beurteilung eines Sachverhalts unabhängig davon vorliegen kann, ob sich diese nachträglich aufgrund eines Rechts- oder Tatsachenfehlers als unrichtig erweist. Dabei klärte der BFH die Reichweite der Änderungsbefugnis für Bescheide verschiedener Steuerarten, die auf dem gleichen Sachverhalt beruhen.
Der Bundesfinanzhof (BFH) hat in seiner aktuellen Entscheidung vom 17.03.2022 (XI R 5/19) seine Grundsätze für die Änderung eines Steuerbescheids gem. § 174 Abs. 4 AO konkretisiert.
Sachverhalt im Besprechungsfall
Die A GmbH gab elektronische Versicherungsbestätigungen für die Zulassung von Fahrzeugen an andere Unternehmer weiter. Die Umsätze hieraus behandelte sie als umsatzsteuerfrei.
Das Finanzamt (FA) folgte dem zunächst, erließ aber nach einer Außenprüfung geänderte Umsatzsteuerbescheide, in denen u.a. diese Umsätze der Umsatzsteuer unterworfen wurden. In den Körperschaftsteueränderungsbescheiden verminderte das FA den Gewinn entsprechend.
Dem Einspruch der A GmbH gegen die Umsatzsteuerbescheide half das FA später (nach Ergehen eines BFH-Urteils) ab. Anschließend erließ das FA Körperschaftsteueränderungsbescheide, in denen es die zuvor vorgenommenen Gewinnminderungen wieder rückgängig machte.
Einspruch und Klage vor dem Finanzgericht (FG) gegen diese Körperschaftsteueränderungsbescheide blieben erfolglos. Der BFH folgte dem.
Voraussetzungen einer Änderung nach § 174 Abs. 4 AO
Der Regelungsmechanismus des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO setzt hinsichtlich der verfahrensmäßigen Abfolge voraus, dass ein angefochtener Bescheid als irrig erkannt und deswegen auf Antrag des Steuerpflichtigen aufgehoben oder geändert wird.
Dies löst dann „nachträglich“ die Rechtsfolge aus, dass ein anderer Bescheid erlassen oder der bestehende Bescheid geändert werden kann. Entscheidend ist, dass aus demselben nahezu identischen Sachverhalt andere steuerliche Folgerungen in einem anderen Steuerbescheid gegenüber dem Steuerpflichtigen zu ziehen sind.
Eine irrige Beurteilung i.S.d. Vorschrift liegt vor, wenn sich die Beurteilung des bestimmten Sachverhalts nachträglich als unrichtig erweist. Ob der dafür ursächliche Fehler im Tatsächlichen oder im Rechtlichen liegt, ist unerheblich.
Es ist deshalb gleichgültig, auf welcher Ebene die Fehlbeurteilung durch die Finanzbehörde liegt. Die zutreffende Berücksichtigung desselben Sachverhalts kann auch bei einer anderen Steuerart in Frage kommen, sofern bezüglich des fraglichen Sachverhalts eine sachliche Verbindung besteht.
Auch bilanzrechtlich zwingende Folgerungen aus der unrichtigen Beurteilung reichen für die Anwendung aus.
Entscheidung im Besprechungsfall
Nach diesen Grundsätzen hat das FG zutreffend eine Änderungsbefugnis nach § 174 Abs. 4 AO bejaht. Die Annahme des FA, dass eine zu passivierende Umsatzsteuerverbindlichkeit bestehe, ist eine irrige Beurteilung eines Sachverhalts.
Die GmbH hatte diesen Sachverhalt in ihren Bilanzen, Umsatz- und Körperschaftsteuererklärungen rechtlich zutreffend beurteilt.
Ob das FA eine Umsatzsteuer für diese Umsätze festsetzt oder nicht, ist für die Beurteilung an den Bilanzstichtagen unerheblich. Dem FA ist insoweit bei der bilanz- und körperschaftsteuerrechtlichen Beurteilung derselbe Rechtsirrtum unterlaufen wie bei der Umsatzsteuer. Folglich durften die Körperschaftsteuerbescheide geändert werden.
Praxishinweis
Der BFH hat damit die Grundsätze des § 174 Abs. 4 AO wie folgt konkretisiert:
Wurden Umsätze in Änderungsbescheiden zur Umsatzsteuer und Körperschaftsteuer zunächst rechtsirrig als umsatzsteuerpflichtig (und eine Umsatzsteuerverbindlichkeit auslösend) berücksichtigt, darf das FA, wenn es dem Einspruch des Steuerpflichtigen gegen den Umsatzsteuerbescheid dadurch abhilft, dass es die Umsätze umsatzsteuerfrei belässt, den bestandskräftigen Körperschaftsteuerbescheid nach § 174 Abs. 4 AO einkommenserhöhend in dem Umfang ändern, in dem es zuvor zu einer Einkommensminderung gekommen war.
Eine irrige Beurteilung eines Sachverhalts i.S.d. § 174 Abs. 4 AO liegt vor, wenn sich dessen Beurteilung nachträglich als unrichtig erweist. Ob der dafür ursächliche Fehler im Tatsächlichen oder im Rechtlichen liegt, ist unerheblich. Die zutreffende Berücksichtigung desselben Sachverhalts kann auch bei einer anderen Steuerart in Frage kommen, sofern eine sachliche Verbindung zwischen beiden Regelungsgegenständen besteht.
BFH, Urt. v. 17.03.2022 - XI R 5/19