Wann können Steuerbescheide wegen neuer Tatsachen oder eines rückwirkenden Ereignisses geändert werden? Und welche Regeln gelten bei einer Schätzung? Der BFH hat entschieden, dass die Schätzung von Betriebsausgaben im Zusammenhang mit Wareneinkäufen voraussetzt, dass auch konkret festgestellt wird, inwieweit Waren tatsächlich eingekauft wurden. Hierbei greifen die allgemeinen Beweisregeln.
Der Bundesfinanzhof (BFH) hat in einer aktuellen Entscheidung dazu Stellung genommen, wie bei nicht bekannten Betriebseinnahmen geschätzt werden darf und unter welchen Voraussetzungen nachträglich ein Steuerbescheid geändert werden kann. Im Streitfall hatte das Finanzamt ein Ermittlungsverfahren wegen Hinterziehung von Einkommensteuer gegen einen Schrotthändler eingeleitet, da es aufgrund von Kontrollmaterial davon ausging, dass dessen Steuererklärungen unvollständig seien.
Daraufhin führte das Finanzamt eine umfassende Außenprüfung durch und stellte unter anderem fest, dass für die als Betriebsausgaben erfassten Wareneinkäufe keine Belege vorhanden waren. Der Aufforderung, die Empfänger der entsprechenden Betriebsausgaben zu benennen, kam der Schrotthändler nicht nach.
Daher schätzte der Prüfer die Betriebseinnahmen aus dem Schrotthandel auf der Grundlage des beschafften Kontrollmaterials, ließ die in den Gewinnermittlungen berücksichtigten Aufwendungen für den Wareneinkauf jedoch nicht zum Betriebsausgabenabzug zu. Zudem erfasste der Prüfer aufgrund einer anderen Kontrollmitteilung für beide Streitjahre weitere geschätzte Betriebseinnahmen.
Das Finanzamt erließ nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geänderte Bescheide und erhöhte die Einkommensteuer für die Prüfungsjahre. Die dagegen gerichteten Einsprüche blieben ohne Erfolg, während das vorinstanzliche Niedersächsische Finanzgericht (FG) der Klage teilweise stattgab. Das FG gewährte einen Betriebsausgabenabzug wegen der Aufwendungen für den Wareneinkauf in Höhe von 50 % der sich nach der Hinzuschätzung durch das Finanzamt insgesamt ergebenden Betriebseinnahmen und lehnte die Hinzuschätzung von weiteren Betriebseinnahmen ab. Der BFH folgte dem nur teilweise.
Wann dürfen Steuerbescheide geändert werden?
Das Fehlen von Einkaufsbelegen stellt eine Tatsache dar, die dem Finanzamt erst nachträglich bekanntgeworden sein kann. Dementsprechend können die Steuerbescheide geändert werden. Die Art und Weise, in der der Steuerpflichtige seine Aufzeichnungen geführt hat – insbesondere die nicht den Vorschriften des § 143 AO entsprechende Aufzeichnung –, ist ebenfalls eine relevante Tatsache, und zwar unabhängig davon, wie ein Steuerpflichtiger seinen Gewinn ermittelt. Denn diese Vorschrift verpflichtet jeden gewerblichen Unternehmer, den Wareneingang gesondert aufzuzeichnen. Maßgeblich ist die Qualifizierung der Einkünfte.
Auf die Buchführungspflicht und die Art der Gewinnermittlung kommt es ebenso wenig an wie auf die Größe und Art des Betriebs oder die Höhe der Umsätze sowie Wareneingänge.
Allerdings ist für den BFH unklar, ob der Veranlagungssachbearbeiter, der die Einkünfte aus Gewerbebetrieb der Streitjahre ermittelte, die fehlende Ordnungsmäßigkeit des aufgezeichneten Wareneingangs kannte. Vielmehr geht das FG davon aus, dass die Einkaufsbelege „mutmaßlich schon bei Durchführung der Erstveranlagung nicht vorhanden waren“. Solche Mutmaßungen sind aber nicht geeignet, eine Überzeugungsbildung des FG anhand konkreter Feststellungen zu ersetzen. Entsprechende Feststellungen muss das FG nachholen.
Wann darf das Finanzamt schätzen?
Neben diesen fehlenden Feststellungen hält der BFH auch die vorgenommenen Schätzungen für unzutreffend. Die Finanzbehörde hat die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, soweit sie sie nicht ermitteln oder berechnen kann. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Steuerpflichtige
- über seine Angaben keine ausreichenden Aufklärungen zu geben vermag oder
- weitere Auskunft oder eine Versicherung an Eides statt verweigert oder
- seine Mitwirkungspflicht verletzt.
Das Gleiche gilt, wenn der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegen kann.
Bei einer Schätzung geht man generell von der Verwirklichung der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für die Besteuerung aus. Deshalb ist nur die Schätzung quantitativer Größen zulässig, aber nicht die Schätzung rein qualitativer Besteuerungsmerkmale. Voraussetzung einer Schätzung ist somit die Gewissheit, dass überhaupt ein steuerlich bedeutsamer Sachverhalt vorliegt. Dies gilt sowohl für steuererhöhende als auch für steuermindernde Umstände.
Feststellungen zu den Wareneinkäufen fehlen
Bei der Prüfung, ob und in welchem Umfang der Schrotthändler einen Wareneinkauf, der auch mit Betriebsausgaben verbunden ist, getätigt hat, können sämtliche Erkenntnisse aus der Betriebsprüfung einschließlich des Benennungsverlangens verwertet werden. Die Berücksichtigung der Kenntnisse, die in der Betriebsprüfung gewonnen worden sind, beruht nicht auf § 160 AO und ist unabhängig von den Voraussetzungen sowie Rechtsfolgen dieser Vorschrift möglich und geboten. Es handelt sich um Sachverhaltsermittlungen, die bereits durch § 88 Abs. 1 Satz 1 AO gerechtfertigt sind.
Die Ergebnisse dieser Ermittlungen können im Rahmen des Festsetzungsverfahrens auch nach Bestandskraft eines Bescheids verarbeitet werden, wenn und soweit dies durch die entsprechenden Änderungsvorschriften gedeckt ist. Allein der Umstand, dass die entsprechenden Nachfragen ihrerseits auch als Benennungsverlangen nach § 160 AO qualifiziert werden können, ändert hieran nichts. Zu beachten ist dabei, dass es für die Rechtmäßigkeit der Änderungsbescheide nicht auf die vom FA gegebene Begründung ankommt, sondern allein darauf, ob die Bescheide im Zeitpunkt ihres Ergehens durch eine Ermächtigungsnorm gedeckt waren.
Insoweit fehlen dem BFH konkrete Feststellungen dazu, ob und ggf. in welchem Umfang überhaupt dem Grunde nach der Schrotthändler Wareneinkäufe getätigt hat. Dabei sind die allgemeinen Beweisregeln einschließlich der Regeln über die Beweisnähe, Beweisvereitelung und Beweislast anzuwenden. Erst wenn das FG unter Beachtung dieser Rechtsgrundsätze zur Überzeugung gelangt ist, dass ein Wareneinkauf in bestimmtem Umfang stattgefunden hat und damit Aufwand entstanden ist, ist es möglich, den Wareneinkauf der Höhe nach durch eine Schätzung näher zu bestimmen, wenn er anderweitig nicht zu ermitteln ist. Bei der Wahl der Schätzungsmethode ist vorrangig an objektiv feststellbare Tatsachen anzuknüpfen, statt abstrakte Überlegungen anzustellen, sofern sich daraus plausible Schätzungsergebnisse ergeben. Im Rahmen dieser Schätzung sind ebenfalls die Korrekturvoraussetzungen und -grenzen der jeweiligen Änderungsnorm zu beachten.
Kein rückwirkendes Ereignis
Für den BFH kann eine Versagung des in den Ausgangsbescheiden gewährten Betriebsausgabenabzugs nicht auf das Benennungsverlangen des Finanzamts oder die hierauf verweigerte Auskunft des Schrotthändlers gestützt werden. Denn es ist erforderlich, dass die betreffende Tatsache bei Erlass des Steuerbescheids bereits vorhanden war. Sowohl das Benennungsverlangen als auch die Verweigerung der Antwort darauf erfolgten nach Erlass der Ausgangsbescheide und scheiden daher als nachträglich bekanntgewordene Tatsachen aus.
Zudem kann das Benennungsverlangen des Finanzamts oder die hierauf verweigerte Auskunft des Schrotthändlers ebenfalls nicht als rückwirkendes Ereignis verstanden werden. Denn ein solches liegt nur vor, wenn der rechtserhebliche Sachverhalt sich später anders gestaltet und sich steuerlich in der Weise in die Vergangenheit auswirkt, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist. Eine andere rechtliche Beurteilung des unverändert bleibenden Sachverhalts reicht dafür nicht aus.
Jedoch wird für die Beurteilung des Wareneinkaufs als Betriebsausgabe weder durch ein Benennungsverlangen des Finanzamts noch dessen Nichtbeantwortung in der geforderten Weise nachträglich rückwirkend verändert. Folglich kann auf das Benennungsverlangen bzw. die verweigerte Auskunft des Schrotthändlers für sich allein keine Änderung der Steuerbescheide gestützt werden.
Praxishinweis
Der BFH hat mit dieser Entscheidung noch einmal klargestellt, wann geschätzt werden darf und wie dabei zu verfahren ist. Erforderlich ist, dass feststeht, dass überhaupt Einnahmen oder Ausgaben erzielt worden sind. Die Höhe dieser Einnahmen oder Ausgaben kann dann geschätzt werden. Allerdings ist der Schätzrahmen dann durch die anzuwenden Änderungsvorschriften entsprechend zu berücksichtigen. Diese Entscheidung wird bei künftigen Betriebsprüfungen und späteren Änderungen von Steuerbescheiden sicherlich zu beachten sein.
BFH, Urt. v. 19.01.2017 - III R 28/14
Quelle: RA und StB Axel Scholz, FA für Steuerrecht und FA für Handels- und Gesellschaftsrecht