Wer seinen Wohnsitz im Ausland hat, kann die „fiktive“ unbeschränkte deutsche Steuerpflicht beantragen. Hierfür gelten aber Wesentlichkeitsgrenzen. Nach dem BFH sind dabei Einnahmen, die zwar steuerbar, aber nach § 3 EStG steuerfrei wären, nicht einzubeziehen. Beim Progressionsvorbehalt bleiben ausländische Kapitaleinkünfte unberücksichtigt, die im Inland der Abgeltungsteuer unterliegen würden.
Der Bundesfinanzhof (BFH) hat in seiner Entscheidung vom 01.06.2022 (I R 3/18) seine Grundsätze zur steuerlichen Behandlung von ausländischen Krankengeldzahlungen und Kapitaleinkünften im Rahmen der fiktiven unbeschränkten Steuerpflicht und des Progressionsvorbehalts weiterentwickelt.
Sachverhalt im Besprechungsfall
S wohnte in den Niederlanden und betrieb in Deutschland eine Praxis als Physiotherapeutin, zudem erzielte sie in den Niederlanden Zinseinkünfte. Ferner erhielt sie Krankengeld des niederländischen Sozialversicherungsträgers, bei dem sie freiwilliges Mitglied war.
Das Krankengeld und die Kapitaleinkünfte wurden in den Niederlanden vom Fiskus besteuert. S wollte im Rahmen der sogenannten fiktiven unbeschränkten Steuerpflicht als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt werden.
Das deutsche Finanzamt sah dies anders und ging von der beschränkten Steuerpflicht der S aus. Das Finanzgericht gab der hiergegen gerichteten Klage statt, der BFH folgte dem teilweise.
Urteilsfindung und -begründung
S hatte weder ihren Wohnsitz noch den gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Grundsätzlich wären die von ihr erzielten inländischen Einkünfte als Physiotherapeutin daher lediglich beschränkt steuerpflichtig.
Aufgrund des von S gestellten Antrags können jedoch die inländischen Einkünfte als (fiktiv) unbeschränkt steuerpflichtig behandelt werden.
Bei der Ermittlung der Einkünfte bleiben nicht von der deutschen Einkommensteuer erfasste Einkünfte, die im Ausland ebenfalls nicht besteuert werden (soweit vergleichbare Einkünfte im Inland steuerfrei sind), unberücksichtigt.
Die Einkünfteermittlung vollzieht sich in zwei Stufen: Zunächst ist in einem ersten Schritt die Summe der „Welteinkünfte“, d.h. die Summe sämtlicher Einkünfte, unabhängig davon zu ermitteln, ob sie im In- oder Ausland erzielt wurden.
In einem zweiten Schritt sind die Einkünfte, die der deutschen Einkommensteuer unterliegen, nach Maßgabe des deutschen Einkommensteuerrechts zu ermitteln. Einnahmen, die steuerfrei sind, werden nicht angesetzt.
Die erhaltenen Krankengeldleistungen sind daher, unabhängig davon, ob diese in den Niederlanden besteuert werden, nicht zu berücksichtigen, weil es sich auf der Basis deutschen Einkommensteuerrechts um steuerfreie Einnahmen handelt.
Damit unterliegen die Einkünfte im Kalenderjahr mindestens zu 90 % der deutschen Einkommensteuer (sog. relative Wesentlichkeitsgrenze), und die nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte übersteigen nicht den Grundfreibetrag (sog. absolute Wesentlichkeitsgrenze). S kann daher als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt werden.
Die niederländischen Zinseinkünfte der S sind, anders als die Krankengeldzahlungen, nicht im Rahmen des Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen.
Ausländische Einkünfte aus Kapitalvermögen, die bei einem inländischen Sachverhalt der Abgeltungsteuer unterliegen würden, sind bei der Anwendung des Progressionsvorbehalts entsprechend dem Zweck des Progressionsvorbehalts nicht anzusetzen.
Praxishinweis
Der BFH hat mit dieser Entscheidung festgelegt, dass für die Berechnung der sogenannten Wesentlichkeitsgrenzen gem. § 1 Abs. 3 Satz 2 EStG als Voraussetzung für die fiktive unbeschränkte Steuerpflicht auf der ersten Stufe (Ermittlung des Welteinkommens) solche Einnahmen, die unter Zugrundelegung deutschen Einkommensteuerrechts grundsätzlich steuerbar, aber nach § 3 EStG steuerfrei wären, nicht einzubeziehen sind.
Diese Einnahmen sind aber ggf. im Rahmen der Bemessung des Progressionsvorbehalts zur Berechnung des besonderen Steuersatzes nach § 32b EStG zu berücksichtigen. Bei der Bemessung des Progressionsvorbehalts bleiben ausländische Kapitaleinkünfte außer Betracht, die bei einem inländischen Sachverhalt der Abgeltungsteuer unterliegen würden.
BFH, Urt. v. 01.06.2022 - I R 3/18