Die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Nachzahlungszinsen erstrecken sich nach dem BFH auch auf die sog. Aussetzungszinsen. Dementsprechend könnten auch Zinsen, die infolge einer Aussetzung der Vollziehung (AdV) festgesetzt werden, rechtswidrig sein. Die BFH-Richter bezweifeln die Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes von 6 % pro Jahr bei den Aussetzungszinsen bereits für Zeiträume ab 2012.
Im Streitfall erließ das zuständige Finanzamt (FA) im November 2012 geänderte Steuerbescheide für die Veranlagungszeiträume 2007, 2008 und 2010. Für die daraus folgenden Steuernachzahlungen beantragte ein Steuerpflichtiger in dem dem Bundesfinanzhof (BFH) vorliegenden Fall die Aussetzung der Vollziehung (AdV). Diese wurde bis September 2016 gewährt und anschließend die daraus folgenden Zinsen mit 6 % p.a. per Bescheid festgesetzt.
Gegen den Zinsbescheid legte der Steuerpflichtige Einspruch ein und beantragte Aussetzung der Vollziehung. Das FA und das Finanzgericht lehnten dies ab. Der BFH sah dies anders.
Voraussetzungen der AdV
Die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts ist vollständig oder teilweise auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Verwaltungsakts bestehen. Solche Zweifel liegen vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheids genauso viel für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids wie für die Rechtswidrigkeit spricht.
Dies ist bei der im AdV-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag des Steuerpflichtigen und des beklagten FA ergibt, sowie aufgrund der Aktenlage zu entscheiden.
Ernstliche Zweifel können dabei auch auf verfassungsrechtlicher Ebene bestehen. Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Wirksamkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, hat es grundsätzlich das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) einzuholen.
Das dem BVerfG vorbehaltene Verwerfungsmonopol hat zur Folge, dass das Fachgericht Folgerungen aus der (von ihm angenommenen) Verfassungswidrigkeit eines formellen Gesetzes im Hauptsacheverfahren erst nach der Feststellung durch das BVerfG ziehen darf.
Allerdings sind die Fachgerichte nicht daran gehindert, schon vor der Entscheidung des BVerfG, die im Hauptsacheverfahren einzuholen ist, auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsacheentscheidung dadurch nicht vorweggenommen wird.
Aussetzung des streitigen Zinsbescheids
Nach der bisherigen Rechtsprechung des BFH bestehen für den gesetzlichen Zinssatz von 0,5 % pro Monat für Aussetzungszinsen der Verzinsungszeiträume ab 2015 ernstliche Zweifel. Dies begründet der BFH insbesondere damit, dass
- der gesetzlich festgelegte Zinssatz für den Zeitraum vom 01.04.2015 bis 16.11.2017 angesichts der zu dieser Zeit bereits eingetretenen strukturellen und nachhaltigen Verfestigung des niedrigen Marktzinsniveaus den angemessenen Rahmen der wirtschaftlichen Realität in erheblichem Maße überschreite und damit mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar sei,
- die Typisierung des Zinssatzes für diesen Zeitraum nicht mehr mit dem Interesse an Praktikabilität und Verwaltungsvereinfachung gerechtfertigt werden könne,
- es für die Höhe des Zinssatzes in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO an einer nachvollziehbaren Begründung fehle,
- der Zweck der Verzinsung – Abschöpfung des Nutzungsvorteils – die gesetzliche Zinshöhe nicht rechtfertige, weil für den Steuerpflichtigen die Möglichkeit, die zu zahlenden Zinsen durch Anlage der nicht gezahlten Steuerbeträge oder durch die Ersparnis von Aufwendungen auch tatsächlich zu erzielen, wegen der strukturellen Niedrigzinsphase im typischen Fall für den in Rede stehenden Zeitraum nahezu ausgeschlossen gewesen sei,
- ein potentieller Zinsnachteil des Fiskus, der den nicht gezahlten Steuerbetrag nicht anderweitig nutzen könne, angesichts des sehr niedrigen und teilweise sogar negative Zinssätze ausweisenden Refinanzierungsniveaus am Kapitalmarkt nahezu ausgeschlossen sei,
- die realitätsferne Bemessung der Zinshöhe in Zeiten eines strukturellen Niedrigzinsniveaus wie ein sanktionierender, rechtsgrundloser Zuschlag auf die Steuerfestsetzung wirke.
Auswirkung im Besprechungsfall
Diese Zweifel des BFH zur Verfassungsmäßigkeit der Festsetzung von Nachzahlungszinsen gelten nach Ansicht des BFH ebenfalls für die Festsetzung von Aussetzungszinsen, da diese gleichermaßen nach Maßgabe des Zinssatzes in § 238 Abs. 1 AO festzusetzen sind.
Auf der Grundlage der bisherigen BFH-Rechtsprechung ist die begehrte AdV nicht nur auf die von dem angefochtenen Bescheid erfassten Zinsen im Streitzeitraum ab 2015, sondern auch auf die vorangegangenen Streitzeiträume ab 2012 zu erstrecken, weil
- die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift für frühere Zeiträume bereits Gegenstand zweier Verfassungsbeschwerdeverfahren für Zeiträume nach 2009 und nach 2011 vor dem BVerfG ist und
- die gegenteilige Auffassung eines anderen Senats des BFH zur Verfassungsmäßigkeit des § 238 Abs. 1 AO für jene früheren Zeiträume ebenfalls zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung ansteht.
Praxishinweis
Der BFH hat nun für Zeiträume ab 2012 auch bei Aussetzungszinsen erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des geltenden gesetzlichen Zinssatzes von 6 % p.a. geäußert. Damit bestehen nun für Nachzahlungszinsen ab 2015 und Aussetzungszinsen ab 2012 erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes.
Steuerpflichtige, die bis zur Entscheidung des BVerfG Bescheide über Nach- oder Aussetzungszinsen erhalten, sollten daher in Erwägung ziehen, ebenfalls eine AdV für die Zinsen zu beantragen. Allerdings muss dabei berücksichtigt werden, dass bei Erfolglosigkeit oder ablehnender Entscheidung des BVerfG der hohe Zinssatz von 6 % p.a. zu zahlen ist.
Update, 30.11.2018: Aus der Praxis ist bekannt geworden, dass Finanzämter antragsgemäß das Verfahren ruhen lassen und AdV gewähren, jedoch mit dem expliziten Hinweis, dass für die Dauer der Aussetzung bei endgültiger Erfolglosigkeit des Einspruchsverfahrens wiederum Zinsen nach § 237 AO festgesetzt würden. Die Bundessteuerberaterkammer hält diese Vorgehensweise für unzutreffend und unzulässig.
BFH, Beschl. v. 03.09.2018 - VIII B 15/18
Quelle: RA und StB Axel Scholz, FA für Steuerrecht und FA für Handels- und Gesellschaftsrecht