Wann besteht bei erwachsenen Kindern Anspruch auf Kindergeld? Wann ist davon auszugehen, dass Kinder fähig sind, ihren Unterhalt selbst zu bestreiten? Der BFH hat klargestellt: Die Fähigkeit zum Selbstunterhalt ergibt sich aus dem Vergleich des gesamten existenziellen Lebensbedarfs mit den finanziellen Mitteln des Kindes. Im Streitfall lebte das volljährige Kind in einer Behinderteneinrichtung.
Die Fähigkeit eines Kindes zum Selbstunterhalt ist durch einen Vergleich des gesamten notwendigen Lebensbedarfs des Kindes und seiner finanziellen Mittel zu ermitteln.
Der Bundesfinanzhof (BFH) hat in seiner aktuellen Entscheidung vom 27.10.2021 (III R 19/19) die Grundsätze dazu konkretisiert, unter welchen Voraussetzungen die Fähigkeit eines Kindes, sich selbst zu unterhalten, den Bezug von Kindergeld ausschließt und wie dies zu prüfen ist.
Sachverhalt im Besprechungsfall
Die Klägerin M ist die Mutter des volljährigen K, der seit seinem 14. Lebensjahr schwerbehindert ist. K wohnt in einer stationären Einrichtung. Die monatlichen Kosten für den Lebensunterhalt und für die fachliche Hilfe werden vom Sozialleistungsträger L im Rahmen der Eingliederungshilfe übernommen.
Zudem ist K im allgemeinen Verwaltungsdienst beschäftigt und erhielt für die Vollzeittätigkeit ein Gehalt. K wurde an den monatlichen Kosten für seine Unterbringung und Betreuung in der Einrichtung beteiligt.
Zudem nahm der L die M auf Zahlung eines Unterhaltsbeitrags in Anspruch. Ab diesem Zeitpunkt beantragte M Kindergeld für K. Die zuständige Familienkasse lehnte dies ab. Der Einspruch blieb ebenso erfolglos wie die Klage vor Gericht. Der BFH folgte dem.
Außerstande, sich selbst zu unterhalten - was heißt das?
Ein behindertes Kind ist außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Dies ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des gesamten existentiellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits.
Diese Betrachtung ist grundsätzlich monatsbezogen vorzunehmen. Dabei sind die Einkünfte und Bezüge, soweit für Gewinneinkünfte nicht das Realisationsprinzip gilt, nach dem Zuflussprinzip zu erfassen.
Der gesamte Lebensbedarf eines behinderten Kindes setzt sich aus dem - betragsmäßig an den Grundfreibetrag anknüpfenden - Grundbedarf und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen.
Der behinderungsbedingte Mehrbedarf umfasst Aufwendungen, die Menschen ohne Behinderung nicht haben, insbesondere solche für Hilfen bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens.
Diese können einzeln nachgewiesen oder es kann der maßgebliche Behindertenpauschbetrag angesetzt werden. Ein behinderungsbedingter Betreuungsbedarf kann z.B. dadurch nachgewiesen werden, dass das Kind Eingliederungshilfeleistungen erhält.
Bezüge sind alle Zuflüsse in Geld oder Naturalleistungen, die nicht im Rahmen der einkommensteuerrechtlichen Einkünfteermittlung erfasst werden. Dabei sind als Einnahmen auch laufende oder einmalige Geldzuwendungen von dritter Seite, sofern sie nicht vom Kindergeldberechtigten stammen, anzusehen, soweit sie nicht der Kapitalanlage dienen.
Sozialleistungen sind dagegen zu berücksichtigen, soweit das Kind nicht vom Sozialleistungsträger zu einem Kostenbeitrag herangezogen wird.
Bei volljährigen behinderten Kindern wird insoweit hinsichtlich der Frage der Unfähigkeit zum Selbstunterhalt immer an die tatsächlich verwirklichten Verhältnisse und somit an die tatsächlich gezahlten Sozialleistungen angeknüpft. Die Einkünfte sind um den (anteiligen) Werbungskostenpauschbetrag, die Bezüge um eine monatliche Kostenpauschale von 15 € zu kürzen.
Entscheidung im Besprechungsfall
Nach Anwendung der vorstehenden Grundsätze geht der BFH davon aus, dass K mit seinen Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit und mit der Eingliederungshilfe über ausreichende Mittel verfügte, um seinen Grundbedarf und seinen behinderungsbedingten Mehrbedarf zu decken.
Denn K erhielt finanzielle Leistungen der Eingliederungshilfe. Ein darüber hinausgehender behinderungsbedingter Mehrbedarf des K für eine häusliche Versorgung, Betreuung und Unterstützung durch die Mutter steht dem Grunde nach nicht fest. Dem stehen höhere, eigene verfügbare Mittel des K gegenüber. Daher wies der BFH die Revision zurück.
Praxishinweis
Der BFH hat seine bisherigen Grundsätze konkretisiert: Die Fähigkeit eines Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs des gesamten existentiellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits zu prüfen. Allein aus dem Umstand, dass der Sozialleistungsträger den grundsätzlich Kindergeldberechtigten auf Zahlung eines Unterhaltsbeitrags für das Kind in Anspruch nimmt, ist nicht abzuleiten, dass dieses zum Selbstunterhalt außerstande ist.
BFH, Urt. v. 27.10.2021 - III R 19/19
Quelle: Axel Scholz, RA und StB, FA für Steuerrecht